Flucht nach vorn

Meine On- und Off-Phasen wurden schlimmer. Im Büro wusste außer meiner Kollegin, die zum Frühstück bei mir war, niemand bescheid. Bisher hatte es auch ganz gut funktioniert. Wenn viel zu tun war, merkte ich besonders, dass die guten Phasen nicht lange andauerten, wie ich sie gerne hätte. Dazu kam noch, dass seit einem Chefwechsel das Arbeitsklima immer schlechter wurde. Der „Neue“ versuchte die alten Teams auseinander zu bringen. Teilweise spielte er auf eine sehr gemeine Art und Weise die Leute gegeneinander aus. Jedenfalls wurde ich durch die Arbeit immer genervter und die Situation stresste mich gewaltig. Was sich natürlich auch nicht gerade positiv auf den Gesundheitszustand auswirkte. Vier Monate hatte ich die geschriebene Kündigung in der Tasche und musste nur noch das entsprechende Datum eintragen. An einem besonders schlimmen Tag, an dem der Chef mal wieder meinte, allen schlechte Arbeit nachweisen zu müssen. Stand ich auf uns ging entschlossen mit einem „Jetzt reicht´s“ die Treppe zu seinem Büro hoch. Ich fragte ihn, ob er kurz Zeit hätte. Er sagte, er sei auf dem Sprung und meinte, wie wichtig es denn wäre. „Ich weiß nicht, wie wichtig es für Sie ist. Für mich ist es sehr wichtig: ich wollte meine Kündigung abgeben.“ Ihm blieb fast der Mund offen stehen. Insgesamt 14 Jahre war ich jetzt in dem Betrieb. Ich genoß diesen Moment in vollen Zügen. Innerlich vollführte ich einen Freudentanz. Einige Tage später fragte er tatsächlich nach dem Grund meiner Kündigung. Das war die Gelegenheit. Ich nannte ihm alle Punkte, die mich vor allem an seinem Verhalten und seinem Umgang mit den Mitarbeitern störten. Sachlich und mit möglichst wenig Emotionen erklärte ich ihm, dass ich für so jemanden nicht mehr arbeiten wollte. Es tat so gut! Abends feierte ich meine Kündigung bei einem Pizzaessen mit meiner Familie. Mein Mittlerer erzählte am nächsten Morgen in der Schule. „Meine Mama hat gestern ihre Arbeit gekündigt, deshalb haben wir gefeiert.“ Der Lehrer war etwas irritiert. 

Da stand ich nun ohne Job. Was sollte ich tun? Am besten wäre eine Arbeitsstelle, wo ich mir die Zeit frei einteilen konnte. Aber wo gab es denn so etwas? Die Idee, mich selbstständig zu machen kam mir bei einem Gespräch mit einer Freundin. So ging ich zum Gewerbeamt und meldete ein Kleingewerbe an: „Nellis Hausservice“. Ich bestellte Flyer und Visitenkarten bei einer Online-Druckerei und verteilte diese. Außerdem schaltete ich einige Anzeigen. Ich bot Alltagshilfe, Kleintierbetreuung und Haussitting an und hatte bald einen kleinen Kundenstamm aufgebaut. Von Putzen, über Gartenarbeit, Keller entrümpeln, Tiere versorgen war alles an Aufträgen dabei. Ich hatte gut zu tun, kam viel unter Leute und es machte Spaß. Zwei Jahre blieb ich bei dieser Tätigkeit. Dann bemerkte ich immer mehr, dass mir die körperliche Arbeit immer schwerer fiel. Wenn ich bei meinen Kunden einiges zu tun hatte, fehlte mir die Energie, hier zu Hause alles auf die Reihe zu bekommen. Es war nicht einfach, aber mir war klar, ich musste meinen Job aufgeben. In meiner Selbsthilfegruppe wurde mir geraten, Rente zu beantragen. Ich suchte also eine Rentenberaterin auf und erklärte ihr meine Situation. Die Beraterin war wirklich ein Glücksgriff. Sie kannte sich gut aus, erklärte mir geduldig alles, was ich wissen wollte und wir füllten gemeinsam den Antrag aus. Dann kam die große Warterei. Immer wieder kamen neue Schreiben von der Rentenkasse und immer wurden weitere Formulare angefordert. Als ich schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, kam wieder Post von der Rentenkasse. Frustriert und mit dem Gedanken: „Was wollen die denn jetzt wieder haben?“ öffnete ich den Umschlag und las „Rentenbescheid“. Ich las weiter und traute meinen Augen kaum. Unbefristet war die Erwerbsminderungsrente genehmigt bis zur Altersrente. Damit hatte ich nicht gerechnet. Und die Nachzahlung ab Antragsstellung war auch nicht schlecht. Ich rief meine Mann an. „Wir können die Handwerker kommen lassen, damit sie anfangen, das Erdgeschoss auszubauen.“ So begann der nächste Bauabschnitt.

 

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